Kellerfund

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November 2019

In dem Keller, der von manchen unserer Gäste die sich dort hin verirren, auch als ein Kriegsschauplatz bezeichnet wird, habe ich in einem Regal vor kurzen einen tollen Fund gemacht.

Es steht nicht nur das alte schepprige Klavier da unten, dort lagert noch eine Violine mit zerissenen Saiten in ihrem Köfferchen, eine alte Gitarre, sie hat noch Saiten und von der Querflöte habe ich ja schon geschrieben.

 

In diesem Regalfach, zwischen Nähzeug und Schachteln mit Großmutters alten Plätzchenausstecherle, habe ich einen ca. 30 cm hohen Stapel mit Klavierliteratur aus dem Elternhaus meiner Mutter gefunden. Ich kann mich erinnern die Noten als very-early-Teenager in dem riesigen dunklen Schrank mit den vielen vielen Büchern aus dem Keller entdeckt zu haben.
Es war spannend sich dort in die Tiefen hindurchzuwühlen. Bücher in Altgriechisch. Als Kind glaubte ich ernsthaft diese Bücher wären in einer Geheimschrift gedruckt. Lateinische Klassiker. Es ist zu dieser Zeit en vogue gewesen seine Kinder humanistisch zu bilden.
Ganze Regalreihen voll mit Bücher von Sir Walter Scott, Thackeray, Charles Dickens und Shakespeare in Englisch. Französische Poesie. Zerlesene Jugendhefte meiner Onkel. Der Zeppelin war damals der letzte Schrei und ziemlich aufregend. Bücher mit Lederrücken und Goldschnitt, in Fraktur gedruckt. Die konnte ich fast genau so schnell lesen wie unsere heutige Schrift. Märchen von Bechstein, Grimm, Hauff und Andersen hatten ja den gleichen Inhalt, aber gelesen aus diesen alten Büchern erschienen sie mir noch zauberhafter.

Was für eine Tragödie das dies alles weggeworfen wurde! Was gäb ich her, um mit einem Sturz durch die vergangenen Zeiten, noch mal eine einzige Stunde dort verweilen zu können. In diesem Keller, in dem die Zeit still stand. Träge und friedliche Ruhe. Staubflirren, aufgewirbelt durch die Nachmittagsonne. Der Geruch von altem Papier. Der Waschkeller war größer als mein Wohnzimmer. Mit blankgescheuerten Tischen für die Wäsche. Im Vorratskeller hunderte von Einmachgläsern. Eingeweckte Griesbirnen mit Zimtstangen. Nie wieder so was gutes gegessen. Das Dienstbotenbadezimmer mit einem Holzrost vor der Wanne mit Füßen. Am Tag vorher mußte der Badeofen angefeuert werden um das Wasser zu erwärmen. Ich weiß nicht warum, aber nicht ein einziges Mal durften wir dort unten baden.
Über die geschwungenen Steinstufen ging hinauf in den Garten. Dorthin wo alles blühte, zwitscherte und duftete. Die Rosen. Das Obst. Die Trauerweide; drunter das kleine, aber einsturzgefährdete Backsteinhäuschen. Schimmernde Libellen. Die Mauer aus Steinen, die den vorderen von dem hinterern Garten teilt, wurde durch Efeu stabilisiert. Das Gartenhäuschen, en miniature et en detail das Wohnhaus. Mit Brombeeren und Veilchen umwachsen.

Ansbach HausDas Wohnhaus aus den Zwanzigerjahren. 14 Zimmer. Der Salon, Bibliothek, Musikzimmer, Biedermeierzimmer, Herrenzimmer. Ein Ankleideraum. Im angrenzenden Badezimmer ein Doppelwaschbecken mit Beinen. Weil wir noch Kinder waren konnten wir problemlos drauf sitzen und uns die Füße waschen, ohne Gefahr fürs Becken oder die eigene Unversehrtheit. Es war schwer zu verstehen, daß das nur in diesem Hause möglich war, jedes andere Becken hätte uns nicht tragen können. Außergewöhnlich für die damalige Zeit: ein Bidet. Im Dach die Dienstbotenzimmer; die chambres de bonnes.

Messingklopfer an dem Hausportal, Flügeltüren, geschliffene Scheiben an der Doppelschwingtüre zur Diele. Das Treppenhaus mit glatten Holzstufen, perfekt geeignet zum-auf-dem-Hosenboden-runterrutschen. Halbrunde Terrasse, halbrunder Balkon, noch ein Balkon, eine weitere Terasse vor der Küche. Überall Geheimnisse, alte wundersame Dinge, antike Möbel, das Haus von oben bis unten zum Spielen und Entdecken, zum Verstecken geeignet. Der Dachboden, eine weitere Welt, in der man tagelang verschwinden und Abenteuer erleben konnte. Und über all das herrschte die gütige, humorvolle und geduldige Großmutter. Fein- und kunstsinnig, begeisterte Kartenspielerin. Eine tolle Frau.

 

Das Notenkonvolut besteht aus dem, was ich damals halt als wertvoll erachtete. Mozart: Klavierstücke, Sonaten, Klavierkonzerte zu vier Händen, Bizet: Carmen. Tschaikowsky: Eugen Onegin, Kipper: Sonatinen Album, Krenzlin: Einführung in die Klassiker, Neue Etüden Schule (ich lese das Datum: April 1933, das Geburtsjahr meiner Mutter), Gurlitt: Albumblätter für die Jugend, Löschhorn: Klassisches + Romantisches Jugendalbum, Bela Bartoks Kinderlieder, eine alte Ausgabe von Burgmüller, Armin Knab: Kinderlieder, Carl Cernys Geläufigkeitsstudien, Mendelssohn: Lieder ohne Worte, diverse Noten plus Singstimme.
Ja, früher hat man keine CD in die Anlage stecken oder über Spotify streamen können. Es wurde Klavier gespielt und einfach selber dazu gesungen.

Ich glaube, man kann annehmen, das ich in diesem Alter schon vor hatte mit dem Klavierspielen anzufangen. Und mir für dieses Vorhaben eigentlich recht planvoll die Noten ausgesucht habe.

Von Bach hatte ich offensichtlich noch nichts gehört gehabt. Nicht ein einziges Notenbuch von Bach. Es ist allerdings möglich, das mein älterer Cousin die Bachliteratur bereits zu sich genommen hat. Denn der Ibach Flügel ist in seinen Teil der Familie gewandert. Und ich weiß wie sehr er Bach verehrt. Wir haben uns gerne in Ansbach auf der Bachwoche getroffen. Und diese war in der Familie heilig. Meine Mutter leidet aber heute noch unter einem Übermaß an Bach und ist aus Protest ein großer Fan von Chopin geworden.

 

Wie konnte ich diesen umfangreichen musikalischen Schatz übersehen? Oder so viele Jahre vergessen? Es gab noch einen anderen Stapel mit den Noten meiner Tochter. Flötenliteratur und die Klavierhefte von Terzibaschi, die sich etwas moderner gerieren und von ihrer Klavierlehrerin favorisiert wurde. Dieser Stapel wurde beachtet und benutzt. Der andere, eingekeilt von lieben Andenken und Erinnerungen, ist in Vergessenheit geraten und unsichtbar geworden. Keine Ahnung warum ich ihn plötzlich gesehen habe. Bitte. Erinnert mich jemand daran, das ich für den Rest meines Lebens kein Geld mehr für zusätzliche Noten ausgeben muss.